Land der Zombies – Seite 1

Haruka Kato war froh, als der Staat einsprang. "Ohne die Hilfen hätte ich auch gleich für immer dichtmachen können", sagt die Betreiberin eines Restaurants im Westen von Tokio. Sie spricht vom März vergangenen Jahres, als die Geschäfte und Lokale wegen des Coronavirus schließen mussten. Der damalige Wirtschaftsaufschwung endete jäh.

Mehr als 2,2 Millionen Yen, rund 18.000 Euro, hat die Gastronomin 2020 vom japanischen Staat erhalten. Ihr wahrer Name soll nicht in der Zeitung genannt werden, um den Ruf des Restaurants zu schützen. Weitere Zuschüsse hat sie für sich und ihre fünf Mitarbeiter schon beantragt.

Haruka Katos Restaurant ist eins von Hunderttausenden Unternehmen, die der japanische Staat seit dem vergangenen Frühjahr unterstützt und damit in vielen Fällen vor der Pleite gerettet hat. Die Regierung hat für ihr Konjunkturpaket Hilfen in Höhe von 40 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausgezahlt, insgesamt 200 Billionen Yen oder 1,5 Billionen Euro.

Oberflächlich betrachtet war das sehr erfolgreich: Im zweiten Quartal 2020 etwa nahmen die Konkursmeldungen nicht zu, obwohl das Bruttoinlandsprodukt 28 Prozent unter dem des Vorjahresquartals lag. Auch in den Folgemonaten ist eine Pleitewelle ausgeblieben.

Doch dieser Erfolg hat nicht nur gute Seiten. Es ist auch möglich, dass tief liegende Probleme des Landes so eher vergrößert werden. Denn nicht erst seit der Corona-Krise hält die japanische Regierung Unternehmen künstlich am Leben. Staatliche Hilfe ist in etlichen Branchen zum Normalfall geworden. Die Japaner sprechen von "Zombieunternehmen", die sich ohne Rettungsmaßnahmen gar nicht mehr am Leben halten könnten.

Die japanische Wirtschaft war Anfang der Neunzigerjahre infolge der damaligen Finanzkrise in eine tiefe Rezession gerutscht. Die Regierung antwortete darauf mit Stabilisierungsmaßnahmen. Zuerst forderte sie Banken dazu auf, verstärkt Kredite an Unternehmen aus dem Produktions- und Dienstleistungssektor zu vergeben. Um die Jahrtausendwende begann dann die Zentralbank damit, Staatsanleihen aufzukaufen, was die Zinsen niedrig hielt. Dadurch erhielten der Staat selbst wie auch Geschäftsbanken Zugang zu billigem Geld, das sie dann weiterverteilen konnten. Der Plan lautete, die krisenbedrohten Unternehmen so lange zu unterstützen, bis sie wieder eigenständig überleben konnten.

In Wirklichkeit aber hingen viele Unternehmen, die in der Krise Finanzspritzen erhalten hatten, noch viele Jahre später davon ab. Ökonomen von der Universität Osaka haben einmal eine Schätzung veröffentlicht, nach der im Jahr 1999 ein Viertel aller Kleinbetriebe in Japan "Zombies" waren. Mitte des vergangenen Jahrzehnts lag dieser Anteil demnach immer noch bei 14 Prozent.

Selbst unter größeren Unternehmen mit mehr als einer Milliarde Yen Eigenkapital (rund 8,1 Millionen Euro) war der Anteil von einst 17 nur auf sieben Prozent geschrumpft. Andere Schätzungen kommen auf höhere Werte. Diese Betriebe eint, dass sie durch ihre Erlöse ihre Verbindlichkeiten nicht bedienen können. Sie gehen aber auch nicht unter, weil sie günstige neue Kredite oder direkte Zuschüsse vom Staat erhalten.

Franz Waldenberger gehört zu den Kritikern dieses Systems. Der Ökonom leitet das Deutsche Institut für Japanstudien in Tokio und hält die Zuschusswirtschaft auf Dauer für eine Wachstumsbremse: "Die Nullzinspolitik sorgt dafür, dass der Ausleseprozess zwischen produktiven und unproduktiven Unternehmen schwächer wird. Wenn der Zins nahe null ist, werden auch die kaum ertragreichen Projekte finanziert." Öffentliche Kreditgarantien, so Waldenberger, vergrößerten das Problem noch. "In Japan werden teilweise 90 bis 100 Prozent eines Kredits durch staatliche Garantien abgesichert."

Waldenberger glaubt, dass dahinter ohnehin nicht bloß ökonomische Gründe stehen. Die soziale Funktion von Unternehmen sei in der japanischen Gesellschaft besonders ausgeprägt, und deshalb gehe es nicht nur um den Gewinn. "Es geht auch um Arbeitsplätze und damit um die Gewährung eines sozialen Sicherheitsnetzes", sagt Waldenberger. Er ist aber skeptisch, ob diese Sozialpolitik durch die künstliche Rettung unprofitabler Betriebe langfristig funktioniert. "Die Zombiebetriebe sind auch ein wichtiger Grund, warum das Lohnniveau seit Jahren stagniert. Die Betriebe stagnieren ja selbst. An Neueinstellungen denken die meisten gar nicht." So könne es aber auch keinen Wachstumsschub geben. Japans Wirtschaftskennziffern stützen diese These: Die Arbeitsproduktivität ist dort im Vergleich zu anderen Industrieländern zurückgefallen. 2001 lag das Land im OECD-Vergleich noch auf Platz 16 der produktivsten Länder, doch mittlerweile reicht es nur noch für Platz 21.

Ein weiteres Problem ist, dass zwar viel Geld in den Erhalt alter Unternehmen fließt, aber kaum welches in die Startfinanzierung von Neuankömmlingen. Seit Jahren ist Japan bekannt für seine niedrige Unternehmensgründungsrate. Das hat auch mit den geringen Finanzierungschancen zu tun. Jungbetriebe müssen oft einen Risikoaufschlag zahlen, wenn sie eine Startfinanzierung erhalten wollen.

"Langfristig verzichtet man auf diese Weise jedes Jahr auf Wachstum"

Doch nicht alle Wirtschaftsexperten in Japan sehen das als Problem. Goya Kobayashi aus dem japanischen Wirtschaftsministerium schüttelt den Kopf. Er sagt: "Zombiebetriebe sind überhaupt kein großes Problem in Japan." Kobayashi hat früher im Ministerium internationale Projekte betreut, heute ist er für die Innovationsförderung in der nördlichen Provinz Yamagata zuständig.

"In Japan ist Kontinuität sehr wichtig", sagt Kobayashi. Der Beamte betont mit Stolz, was der Ökonom Waldenberger eher als Makel sieht. Es ist ein ganz anderes Denken. Kobayashi betont: "In keinem Land der Welt gibt es so viele Unternehmen, die älter als hundert Jahre sind."

Er sieht auch viel wirtschaftlichen Wert in dieser Langlebigkeit. Deren Bedeutung, sagt er, falle ihm in seiner Dienstregion Yamagata besonders auf. Da gebe es ein Unternehmen, das seit 1870 Banner produziere, die für besondere Veranstaltungen auf faltbare Wände gedruckt werden.

In ruppigeren, marktliberal ausgerichteten Wirtschaftsordnungen wäre es in der Corona-Krise wohl pleitegegangen, aber durch das frische Geld vom Staat habe der Betrieb mehr als einfach nur überlebt. Man habe dort auch Zeit zum Nachdenken über Innovationen gehabt. Der Beamte erläutert das so: "Der Erbe hat im Frühjahr begonnen, Küchenbretter und Mousepads mit den alten Druckmustern herzustellen. Er kombiniert jetzt Tradition mit Innovation. Und es wurden Arbeitsplätze hier in der Region erhalten."

Kobayashi bezweifelt, dass das Gleiche passiert wäre, wenn an die Stelle des alten Betriebs ein neuer getreten wäre. "Alteingesessene Unternehmen sind in ihrer lokalen Gesellschaft verankert. Sie achten auf ihre soziale Rolle."

Kann sich eine Volkswirtschaft also langfristig im Zombiezustand einrichten? Markus Brunnermeier, Makroökonomie-Professor an der Princeton University in den USA, ist in dieser Frage hin- und hergerissen. "Der Stabilisierungsfaktor, durch den die Arbeitslosigkeit gering bleibt, ist schon ein Erfolg", sagt er. "Aber langfristig verzichtet man auf diese Weise jedes Jahr auf Wachstum. Und am Ende finden die jungen Menschen, die neu auf den Arbeitsmarkt stoßen, kaum noch gute Jobs."

In einem Umfeld, das Pleiten ermöglicht, bestehe zumindest die Chance auf neue Qualitätsjobs: in neuen oder rundum erneuerten Unternehmen der Zukunft. In Japan lässt sich hingegen das Gegenteil besichtigen. Nach mehreren Wirtschaftskrisen ist der Anteil prekärer Beschäftigung von 14 Prozent im Jahr 1990 auf über 30 Prozent im vergangenen Jahr angestiegen. Die Zahl der geretteten Jobs verbirgt also ihre teilweise schwindende Qualität.

Wenn der Staat sich eines Tages zurückzieht, werden in Japan wohl viele Betriebe verschwinden. Der Ökonom Brunnermeier findet das unterm Strich wünschenswert. "Aber einer Regierung zu entsprechenden Schritten raten würde ich auch nicht. Zumindest dann nicht, wenn das Ziel ist, die nächste Wahl zu gewinnen."