Debatte um japanische Schulbücher:Es geht um das, was nicht drinsteht

Debatte um japanische Schulbücher: Wer die Inhalte von Schulbüchern bestimmt, kann das Weltbild von Menschen prägen - und Lücken fürs Leben hinterlassen.

Wer die Inhalte von Schulbüchern bestimmt, kann das Weltbild von Menschen prägen - und Lücken fürs Leben hinterlassen.

(Foto: Philip Fong/AFP)

Japan war einst aggressive Kolonialmacht, den Zweiten Weltkrieg verlor Tokio an der Seite Hitler-Deutschlands. Doch Schüler erfahren darüber wenig - zu wenig, finden internationale Experten.

Von Thomas Hahn, Tokio

Mit den Schulbüchern in Japan hat der britische Japanologe Mark Williams ein Problem. Und wenn er erklären soll, warum, muss er etwas ausholen.

Williams sitzt in seinem Professorenzimmer auf dem weitläufigen, baumbestandenen Campus der Internationalen Christlichen Universität (ICU) in Tokio. Er kennt die Qualitäten des Inselstaates, die Tiefen seiner Sprache, die Weisheit seiner Menschen. Er mag es, ihnen nachzuspüren, sonst hätte er sein Forscherleben nicht der japanischen Nachkriegsliteratur gewidmet, vor allem dem Schriftsteller Endo Shusaku, dessen Werke von der Begegnung Japans mit der Fremde erzählen.

Japans Versöhnung mit der Welt ist ein großes Thema für Mark Williams, und es scheint ihn zu quälen, dass er immer wieder feststellen muss: Seit dem Zweiten Weltkrieg, den das damalige Kaiserreich 1945 als aggressive Kolonialmacht und Bündnispartner von Nazideutschland verlor, hat es Japans politische Elite nicht geschafft, die eigene Schuld überzeugend aufzuarbeiten.

"Es gibt sehr wenige Leute, die sagen würden, Deutschland hätte sich nicht vollständig seiner Vergangenheit gestellt", sagt Mark Williams. "In Bezug auf Japan aber bleibt in dieser Hinsicht echter Unmut." Sein Ton ist sanft, sein Urteil klar. "Und das hat mit dem Schulbuch-Problem zu tun."

"In Japans Schulbildung endet die Weltgeschichte 1941."

Schulbücher sind die unvermeidlichen Begleiter der Jugend und damit wichtige Säulen der gesellschaftlichen Bildung. Wer aus ihnen lernt, ist gerade erst dabei, die Zusammenhänge der Welt zu verstehen. Wer ihre Inhalte bestimmt, kann das Weltbild von Menschen prägen. Für Diktatoren sind Schulbücher Instrumente der Massenmanipulation, für freiheitliche Länder eine Chance, die universellen Werte des Zusammenlebens zu schärfen. Und in Japan sind die Schulbücher das Symbol eines anhaltenden Tauziehens um die Auseinandersetzung mit der Geschichte.

In Japan tut man sich traditionell schwer mit den dunkleren Kapiteln der eigenen Vergangenheit. Es scheinen deshalb vor allem internationale Experten zu sein, die besagtes Tauziehen mit Sorge betrachten. Weniger weil sie platte Propaganda im Lehrmaterial finden, welches das Bildungsministerium der Zentralregierung in Tokio offiziell zugelassen hat. Es geht eher um das, was nicht drinsteht. "Ein typischer japanischer Highschool-Absolvent weiß nicht viel über die Kriegsvergangenheit", sagt Mark Williams, "in Japans Schulbildung endet die Weltgeschichte 1941." Kriegsverantwortung? Nachhaltige Aufarbeitung des Geschehens? Die Folgen japanischen Handelns für andere Länder? Kein Thema nach Williams' Beobachtung. "Es ist zu unangenehm, zu schwierig."

Nationalismus im Bildungssystem ist ein Symptom autoritärer Ein-Parteien-Regierungen, wie es sie zum Beispiel in China gibt. Japan ist Asiens einziges Mitglied im Bündnis der freiheitlichen Industrienationen G 7. Die Schulbuchpolitik dort müsste eigentlich konsequent die Werte der internationalen Gemeinschaft vermitteln. Ob sie das tut? Auch Samuel Guex, Direktor des Departments Ostasienstudien an der Universität Genf, ist skeptisch. Allerdings nicht nur mit Blick auf Japan. Über die Geschichtsschulbücher in Südkorea, den zweiten Bündnispartner der USA im ostasiatischen Raum, schreibt er: "Nationalismus ist immer noch der dominierende Rahmen ihres Narrativs."

Korea war zwischen 1910 und 1945 eine japanische Kolonie. Die Regierungen von Japan und Südkorea sind tief zerstritten über Themen dieser Zeit, vor allem über die Aufarbeitung von Zwangsprostitution und Zwangsarbeit, die Koreanerinnen und Koreaner ertragen mussten. Geschichtsschulbücher könnten zur Aussöhnung beitragen. Aber welche Traumata die Kolonialherrschaft in Korea hinterlassen hat, kommt in den japanischen so gut wie nicht vor - während die südkoreanischen die Besetzung als Zeit der Unterdrückung beschreiben. Das passt nicht zusammen.

Südkoreas Regierung beauftragte 2019 das Korea-Institut für Südostasien-Studien mit einer Analyse der Lehrbücher für Mittel- und Oberschulen. Ergebnis: zu viele Stereotype, zu viel Fokus auf Indien und China, wenn es um die historischen Zusammenhänge der Region geht. Im Tigerstaat scheint man also offen zu sein für einen neuen Schulbuch-Ton. Samuel Guex spricht insgesamt von "Verbesserungen im südkoreanischen Schulbuch-System".

South Korea Marks 73 Years After Liberation From Imperial Japan

Welche Traumata die Kolonialherrschaft in Korea hinterlassen hat - etwa durch Zwangsprostitution -, kommt in den japanischen Schulbüchern so gut wie nicht vor. Das Bild entstand 2018 auf einer Demonstration in Seoul, wo an das Schicksal der "Trostfrauen" erinnert wurde.

(Foto: Chung Sung-Ju/Getty)

Aber das Japan-Bild bleibt schwierig. In Japan wiederum sieht Guex Rückschritte wegen des Rechtsrucks, den Japans Politik-Elite erfuhr, als die aktuelle Regierungspartei LDP nach einer Wahlniederlage 2009 mehr denn je um Stimmen aus den rechtsradikalen Kreisen warb. "Um es einfach zu sagen", erklärt Guex, "im Vergleich zu den Neunzigerjahren, als es sehr nationalistische südkoreanische Schulbücher und weniger nationalistische japanische Schulbücher gab, gibt es jetzt sehr nationalistische Schulbücher in beiden Ländern."

Der Druck von rechts ist eine anhaltende Belastungsprobe für Japans Schulbuchpolitik. "Japans Bildungsministerium versucht durchaus, sich einigermaßen neutral zu verhalten", sagt Torsten Weber, Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio. Der Anspruch, die Gefühle anderer Länder nicht zu verletzen, ist als Klausel im Prüfverfahren für neue Schulbücher festgeschrieben. Frühere Schulbuchdebatten sind nicht wirkungslos geblieben.

Die nationalistische Gegenbewegung, die Anfang der 2000er-Jahre einen "Geschichtsmasochismus" japankritischer Vergangenheitsbewältiger beklagte, hatte keinen durchschlagenden Erfolg. Das "Neue Geschichtslehrbuch" des rechten Verlages Tsukurukai, dem Japans Bildungsministerium 2001 die Zulassung erteilte und das in China und Südkorea Proteste auslöste, "wird de facto so gut wie gar nicht benutzt in Schulen", sagt Weber. Und internationale Studien stellen klar: Es stimmt nicht, dass Japans Schulbücher alles weglassen, was Japan schlecht aussehen lässt.

Aber der Streit hält an. Torsten Weber nennt ein Beispiel: das Nanking-Massaker von 1937 in einem Schulbuch des Verlags Yamakawa Shuppansha. Das Massaker belastet bis heute die Beziehungen zwischen China und Japan. Japans Armee vergewaltigte und tötete damals massenhaft Menschen. "Es kommt vor, wie in allen Schulbüchern, und wird als 'Nanking-Zwischenfall' benannt", sagt Weber, "im Text steht, dass japanische Soldaten auch zahlreiche Zivilisten umgebracht haben. Eine Gesamtopferzahl wird nicht genannt."

Manchen ist das zu lapidar für ein Kriegsverbrechen, bei dem zwischen 50 000 und 300 000 Menschen ermordet wurden. Japans Rechtsradikale finden die Stelle wiederum zu kritisch. Und diese haben starke Foren in der Japan-Organisation Nippon Kaigi, im Shinto-Schrein-Verband oder der Zeitung Sankei. "Deshalb", sagt Torsten Weber, "ist das Thema Schulbücher immer irgendwie heiß."

Hintergrundwissen und Einspruch zu fördern, gehört eigentlich nicht zum Arbeitsauftrag der Lehrer

Im Lehrplan für japanische Mittelschulen ist das Thema "Der Zweite Weltkrieg und seine verheerenden Folgen für die Menschheit" Pflicht. Das teilt Japans Bildungsministerium (MEXT) mit. Zur schwelenden Schulbuchdebatte erklärt es: "Es ist dem Urteil privater Verlage überlassen, welche Inhalte japanische Lehrbücher haben (...). Uns ist bewusst, dass es verschiedene Wahrnehmungen und Meinungen zu japanischen Geschichtslehrbüchern gibt. Aber das MEXT wird weiter Prüfungen durchführen, die auf der Prämisse basieren, dass viele Lehrbücher den Einfallsreichtum des privaten Sektors nutzen."

Distanz zu rechten Verlagen könnte man klarer formulieren. Das wiederum passt zum Charakter der Regierungspartei LDP. In den Kulissen einer demokratischen Grundordnung lässt sie den Nationalismus fast unbemerkt in die Gesellschaft hineinsickern.

Der Mainstream ist rechts oder gleichgültig. Und in den Geschichtsschulbüchern lernt die Jugend wenig darüber, wie gefährlich so etwas sein kann. "Wie alle Schulbücher in Japan haben auch die Geschichtsschulbücher vor allem die Funktion der Vorbereitung auf Aufnahmeprüfungen für die Universität", erklärt Torsten Weber, "es geht vor allem um das Auswendiglernen von Fakten sowie etwas vereinfachte Kausalzusammenhänge."

Einordnung? Inhaltliche Deutung? Können im Unterricht vorkommen. "Es gibt viele fantastische Geschichtslehrer in Japan", sagt Mark Williams in seinem Professorenzimmer. Aber Hintergrundwissen und begründeten Einspruch zu fördern, gehört eigentlich nicht zu ihrem Arbeitsauftrag. So festigen sich oberflächliche Ansichten über Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg, die andere Staaten irritieren. "In Japan wurde der Krieg emotional nie beigelegt", sagt Mark Williams. Und in den Schulbüchern steht keine Idee, wie das jemals gelingen könnte.

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