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Deutsches Institut für Japanstudien
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Aktueller Begriff kokusō

28. September 2022, von Torsten Weber

Insgesamt 3188 Tage lang war Abe Shinzo Premierminister Japans – so lange wie niemand zuvor. Als er am 8. Juli 2022 in Nara auf offener Straße erschossen wurde, saß der Schock in Japan und weltweit tief.  Nur eine Woche nach Abes Tod ist um das von Premierminister Kishida Fumio verkündete Staatsbegräbnis (kokusō 国葬) für Abe allerdings eine heftige Kontroverse entbrannt, die bis heute anhält.

Dass ein langjähriger, hochrangiger Politiker nach seinem Tod mit einem Staatsbegräbnis verabschiedet wird, erscheint nicht ungewöhnlich. Aber in Japan ist es das: seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist vor Abe nur Yoshida Shigeru (Premierminister 1946-47, 1948-54) im Jahr 1967 diese Ehre zuteilgeworden. Nicht ganz unerwartet kam daher die Kritik, als Premierminister Kishida am 14. Juli – nur sechs Tage nach Abes Ermordung – verkündete, man werde für Abe ein Staatsbegräbnis ausrichten. Dass die Regierung diesen Plan nicht im Parlament diskutieren wollte, sondern an der Volksvertretung vorbei verkündet hatte, ist dabei nur einer von vielen Kritikpunkten. Während der noch anhaltenden Aufarbeitung des Attentats auf Abe wurden immer tiefer reichende Verstrickungen von Mitgliedern der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) in umstrittene Machenschaften der Vereinigungskirche („Moon-Sekte“) bekannt. Fast die Hälfte der LDP-Abgeordneten pflegte Kontakte zur Kirche oder unterstützte sie aktiv, und viele hatten im Gegenzug Wahlkampfhilfen erhalten. Dass die Gruppierung im Umgang mit ihren Mitgliedern nicht vor Einschüchterungen zurückschreckt, schien die Politiker in ihrem Streben nach Macht nicht zu stören. Der Mörder Abes hatte angegeben, durch die Verwicklung seiner Mutter in die Kirche alles verloren zu haben. Auch viele andere Opfer bestätigten in der Folge, dass die Gruppe ihre Mitglieder unter Druck setze, ihr Teile des Vermögens zu überlassen.

Abes kontroverses Erbe

Aber nicht nur die Unterstützung dieser dubiosen Organisation wird Abe vorgeworfen: als Premierminister von 2006-2007 und 2012-2020 (und auch zuvor, dazwischen und danach) hatte er als rechtskonservativer Politiker die Freiheit der Medien eingeschränkt, verzerrende Geschichtsbilder vertreten, das Verhältnis zu China und Korea belastet und war in zahlreiche politische und finanzielle Skandale verwickelt. Mehr zu Abes Politik finden Sie in der open access Publikation Japan in der Ära Abe. Eine politikwissenschaftliche Analyse, erschienen 2017 in der DIJ Monographien-Reihe und herausgegeben von den DIJ Alumni Steffen Heinrich und Gabriele Vogt. Schließlich stehen auch die immensen Kosten des Staatsbegräbnisses in Zeiten wirtschaftlicher Not in der Kritik: mindestens 1,65 Milliarden Yen (ca. 12 Millionen Euro) wird es die japanischen Steuerzahler kosten, plus weitere Kosten für das am 15. Oktober in Abes Heimat Yamaguchi geplante Präfekturbegräbnis (kenminsō). Es soll geschätzte 63 Millionen Yen (ca. 460.000 Euro) kosten, wovon Abes LDP die Hälfte zahlen will.

Widerstand gegen Abes Staatsbegräbnis

Wie groß die Ablehnung gegenüber Abes Staatsbegräbnis ist, zeigen nicht nur Meinungsumfragen. Der regierungsnahe TV-Sender NHK veröffentlichte Mitte September eine Umfrage, wonach 57% das Staatsbegräbnis ablehnten und 72% angaben, dass die Regierung dessen Notwendigkeit nicht ausreichend erklärt habe (NHK). Am 21. September hatte sich ein 70 Jahre alter Mann aus Protest gegen das Staatsbegräbnis in der Nähe der Regierungsgebäude in Tokyo angezündet. Er überlebte und mit ihm auch anti-kokusō Nachrichten, die er mit sich trug. Der regierungskritische Politikwissenschaftlicher Nakano Koichi (Sophia Universität) fasste die Kritik in einem englischsprachigen Video zusammen, das auf You Tube und Twitter mehr als 70.000 Ansichten hat. Er argumentiert, dass Staatsbegräbnisse nicht mehr zeitgemäß seien, die Entscheidung ohne Diskussion im Parlament nicht demokratisch legitimiert sei, die Mehrheit der Bevölkerung gegen das Staatsbegräbnis sei und Abes Skandale und politisches Erbe diese Ehre nicht rechtfertigten.

Noch populärer ist der satirische Protest des Komikers Emori Kosuke. Er stammt aus Okinawa und erklärt vor der lokalen Strandkulisse, warum er gegen das Staatsbegräbnis ist. Dabei zieht er vor allem Kishidas Begründung durch den Kakao, wonach das Staatsbegräbnis „zum Schutz der Demokratie“ notwendig sei. Wie passt das zusammen mit der Tatsache, dass die Entscheidung durch einen Kabinettsbeschluss am Parlament vorbei und gegen die Mehrheit des Volkes gefällt wurde, die immensen Kosten aber durch Steuergelder, also das Volk, finanziert werden, fragt Emori ironisch. Sein Video wurde allein auf Twitter mehr als 1,5 millionenfach angeschaut.  

In Meinungsumfragen ist Kishida in den vergangenen Monaten kontinuierlich abgerutscht. Im September fiel laut einer Umfrage der Asahi Shinbun seine Zustimmungsrate (41%) zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt im Oktober 2021 unterhalb die Ablehnungsrate (47%). Dass Kishida sich angesichts dieser Werte auch nur annähernd ähnlich lange im Amt halten wird wir sein Vorvorgänger Abe, gilt daher als unwahrscheinlich.