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Deutsches Institut für Japanstudien

Johannes Justus Rein: Briefe eines deutschen Geographen aus Japan, 1873–1875

 Januar 2005 - Oktober 2006

Johannes Justus Rein (1835–1918) findet in Rückblicken zur Geschichte der Geographie und der Japanstudien (Japanologie) in der Regel in zweierlei Hinsicht Erwähnung. Zum einen gehörte er zur ersten Generation von Professoren, die auf die Lehrstühle für Geographie berufen wurden, die in den 1870er Jahren an preußischen Universitäten neu geschaffen wurden. Viele von ihnen waren Forschungsreisende und Naturforscher wie Rein. In dieser Zeit wurden auch die ersten internationalen geographischen Kongresse abgehalten. Carl Ritter (1779–1859), seit 1820 erster Lehrstuhlinhaber für Geographie in Deutschland an der Universität zu Berlin, und Alexander von Humboldt (1769–1859) gelten als Pioniere und Begründer einer wissenschaftlichen Geographie mit Weltruf, aber eine Etablierung der Geographie als theorieorientierte, praxisbezogene und eigenständige Universitätswissenschaft auf breiter Grundlage erfolgte erst nach der Gründung des Deutschen Reiches von 1871.
Zum anderen ist Rein wegen seines detailreichen zweibändigen Hauptwerkes Japan nach Reisen und Studien im Auftrage der Königlich Preussischen Regierung dargestellt (1881–1886) und nicht zuletzt auch wegen der innerhalb von wenigen Jahren veröffentlichten englischen Übersetzung (1884–1889) einer größeren Leserschaft in Großbritannien, den USA und darüber hinaus bekannt geworden. Ein wichtiger Grund für die Berufung des unhabilitierten Rein auf den ersten Lehrstuhl für Geographie an der Universität Marburg (1876–1883) war der Erfolg seiner Forschungsreise zwischen 1873 und 1875 nach Japan für das preußische Handelsministerium. Nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von Japan nach Reisen und Studien in Marburg wurde Rein 1883 als Nachfolger von Ferdinand von Richthofen (1833–1905) auf den Lehrstuhl für Geographie an der Universität Bonn berufen. Aus Reins Schriften und seiner Lehre wird deutlich, daß er weniger Hypothesen aufstellte und neue Theorien entwickelte oder vorhandene bestätigte, sondern eher geographisch-länderkundliches Wissen, das er für relevant hielt, sammelte, ordnete und präsentierte.
Die Sammlung und Verbreitung von geographischem Wissen über das eigene Gebiet und die Außenwelt wurde im 19. Jahrhundert wissenschaftlich und vor allem auch (handels)politisch, (rohstoff)wirtschaftlich und militärisch wichtiger und machte die Gründung von geographischen Gesellschaften notwendig, was positiv auf die Einrichtung der Geographie als Universitäts- und Schulfach zurückwirkte. So wurden zunächst in Frankreich (1821), Preußen (1828) und England (1830), später auch in Rußland (1845), den USA (1851), Österreich (1856), den Niederlanden (1873), Italien (1873), Dänemark (1876) und Japan (1879) geographische Gesellschaften zum Teil durch private Initiative und Geldmittel und zum Teil mit öffentlicher Förderung gegründet. Die Geographie entwickelte sich in dieser Periode im Kontext der Blüte der Naturwissenschaften und emanzipierte sich nach und nach von der Geschichtswissenschaft und der Geologie.
Johannes Justus Rein wurde in Raunheim bei Frankfurt am Main geboren und nahm 1851 an der Universität Gießen ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium mit dem Schwerpunkt Mathematik, Chemie und Botanik auf, mußte sein Studium – nach fünf Semestern – jedoch wahrscheinlich aus finanziellen Gründen zugunsten einer Lehrerausbildung abbrechen. Später arbeitete er sich vom Volksschullehrer zum Oberlehrer hoch, wurde an der Universität Rostock promoviert und heiratete Maria Elisabetha Caroline von Rein (1837–1896), mit der er sieben Kinder hatte. Als weitgereister Forschungsreisender und Naturforscher mit Ambitionen auf einen Lehrstuhl für Geographie an der neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg wurde er vom preußischen Handelsministerium zur Untersuchung der traditionellen Industrien und des Handwerks für zwei Jahre nach Japan entsandt. Die Entsendung eines Wissenschaftlers zur Sammlung von Informationen über Japan und zum Zwecke möglichen Know-how-Transfers hatte der deutsche Gesandte Max von Brandt (1835–1920) vorgeschlagen, der über mehr als drei Jahrzehnte hinweg in Ostasien die deutsche Diplomatie dominierte und nach Reisen in verschiedene japanische Regionen vom hohen Entwicklungsstand traditionellen Handwerks und bestimmter Gewerbe beeindruckt und überzeugt war, daß das neue Deutsche Reich auf manchem Gebiet eventuell auch vom japanischen Kaiserreich der jungen Meiji-Ära (1868–1912) lernen könnte. Max von Brandt hatte ein Jahrzehnt vorher als Attaché an der preußischen Ostasienexpedition (Dezember 1859 bis Oktober 1862) teilgenommen, die unter der Leitung von Friedrich Albrecht Graf zu Eulenburg (1815–1881) im Januar 1861 einen Vertrag über Freundschaft, Handel und Schiffahrt mit Japan abgeschlossen hatte.
Wenige Monate nach dem Besuch der Iwakura-Mission (Iwakura kengai shisetsu, Dezember 1871 bis September 1873) in Deutschland im März 1873 (Berlin, Essen, Frankfurt am Main, Hamburg, München), die unter der Leitung von Fürst Iwakura Tomomi (1825–1883) die USA und Europa mit dem Zweck einer Revision der in den 1850er und 1860er Jahren abgeschlossenen Ungleichen Verträge (fubyōdō jōyaku) bereiste, begann Rein seine Japan-Mission. Anders als seine Vorgänger Engelbert Kaempfer (1651–1716) und Philipp Franz von Siebold (1796–1866) bewegte sich Rein als erster Ausländer rund zwanzig Monate lang – selbstverständlich von lokalen Verwaltungsbeamten bewacht und beschützt, aber tatsächlich so frei wie kein Ausländer vor ihm – durch etwa drei Viertel der heutigen Präfekturen und bekam ein umfassendes Bild des gerade erst geeinten japanischen Kaiserreiches kurz nach der Auflösung der feudalen Domänen und Gründung von Präfekturen (haihan chiken). Japan befand sich politisch, wirtschaftlich und sozial an einem Scheideweg und in einer Umbruch- und Modernisierungsphase. Rein erforschte die Hauptinseln Honshū, Kyūshū und Shikoku und ein paar kleinere Inseln. Eine Schiffsreise zur noch wenig erschlossenen nördlichen Hauptinsel war ursprünglich geplant, konnte aber letztlich nicht mehr verwirklicht werden. Die Ermordung des ersten deutschen Konsuls für Hokkaidō, Ludwig Haber, durch einen xenophoben Samurai in Hakodate im August 1874 hat vermutlich wenig Einfluß auf Reins Reiseplanungen gehabt. Rein ist von japanischen Bewohnern bis auf ein paar grimmige Blicke in der Tōhoku-Region normalerweise Freundlichkeit und Respekt, aber auch – vor allem von Kindern – viel aufdringliche Neugierde, aber keine Feindseligkeit entgegengebracht worden. Er trug zum persönlichen Schutz einen Revolver, den er jedoch nur einmal zwischen Sendai und Kamaishi zum Aufscheuchen von Wildenten benutzte.
Rein untersuchte nicht nur regionale Traditionsgewerbe (Papier, Leder, Keramik, Seide, Lack, Eisen, Kupfer, Bronze, Textilien, Holzprodukte), sondern ging von Anfang an bewußt weit über seinen Auftrag im engeren Sinne hinaus, um später einmal auf der Grundlage seiner Forschungsreise und ergänzenden Studien ein größeres geographisches Werk über Japan zu verfassen, was er schließlich konsequent verwirklicht hat. Den ersten Band von 1881 legte Rein 1905 in überarbeiteter Form vor, unter anderem mit der Hilfe von Yamasaki Naomasa (1870–1929), der in Bonn bei Rein und in Wien bei Professor Albrecht Penck (1858–1945) Geographie und Geologie studiert hatte und später der erste Professor für Geographie an der Kaiserlichen Universität Tōkyō (Tōkyō Teikoku Daigaku) und Gründungspräsident der Japanischen Vereinigung für Geographie (Nihon Chiri Gakkai) werden sollte. Rein, Professor emeritus der Universität Bonn seit 1911, konnte seinen Lebensabend nicht lange genießen. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre gelähmt im Bett.
Die Briefe, die Johannes Justus Rein aus Japan an seine Familie geschickt hat, sind ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-japanischen Beziehungen und zur Geschichte der Geographie. Sie ermöglichen einen lebhaften Einblick in das Leben eines preußischen Familienvaters und Forschungsreisenden in einer für das Deutsche Reich nach der Vereinigung von 1871 und das japanische Kaiserreich nach der Meiji-Restauration von 1868 turbulenten Periode, in der sich beide Nationen als Nachzügler auf der Weltbühne des Imperialismus betrachteten.


Team

Matthias Koch Matthias Koch (bis Februar 2008)
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Deutschland-Japan-Vergleiche, deutsch-japanische Beziehungen